Alle fünf Jahre schreibe ich einen Brief an mein „Ich“ der Zukunft, vertraue ich unterschiedlichem Papier, mal Bütten, mal kariert, meine Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte an.
Wann ich mit diesen Briefen angefangen habe? Es muss in der Zeit gewesen sein, als ich den Glauben an den Weihnachtsmann und die gute Fee verloren habe und spürte, dass nur ich die Erfüllerin meiner Wünsche und Träume werden konnte. Zumindest der sehr persönlichen, privaten, ideellen. Und so weiter.
Fünf Wünsche, Aufforderungen, Sehnsüchte schreibe ich auf. Klar, könnte ich auch Drei nehmen oder Neun. Ich persönlich finde drei Wünsche, Sehnsüchte, Träume zu wenig. Stellt Euch vor, nur einer geht in Erfüllung. Frustrierend! Neun Wünsche, Aufforderungen hingegen finde ich ein wenig unverschämt, abgesehen davon, dass deren Umsetzung mich überfordern könnte und ich mich verzettele. Fünf ist für mich eine praktikable Zahl.
An erster Stelle steht naturgemäß der dringlichste Wunsch. Mein Want! Manchmal fällt mir aber auch erst beim Nachdenken ein, was ich wirklich brauche. Mein Need! Wie dem auch sei. Ohne fünf Gedanken an mich beende ich meine Seiten nicht.
Auf den Briefumschlag schreibe ich meine derzeitige Adresse und ein Datum (natürlich in fünf Jahren). Dann lege ich den Brief weg. Ganz wichtig: An einen Ort, der nicht zu geheim ist! Sonst finde ich ihn z.B. nach einem Umzug nicht wieder, schmeiß ihn aus Versehen beim Aufräumen ins Altpapier oder vergesse ihn. Natürlich könnte ich den Brief auch in den Computer tippen und mir eine Erinnerung in den Kalender schreiben. In diesem speziellen Fall mag ich es lieber old-school und haptisch.
Wenn ich den Umschlag öffne, mache ich es feierlich. Immerhin sind es meine Gedanken von vor fünf Jahren, meine Wünsche, und die sollte man würdig, manchmal mit Nachsicht, aber immer freudig lesen.
Vor kurzem war es wieder so weit. Ich habe meinen Brief übrigens schnell gefunden. Er hängt mittlerweile an der Magnetwand in der Küche. Das Datum sprang mich schon seit Tagen an.
Im Kerzenschein mit einem Glas Rotwein war es soweit. Ich zog mich zurück und öffnete den Umschlag meines Ichs von vor fünf Jahren. Und bevor ich eigentlich richtig zum Lesen kam, sprang sie mir in die Augen, obwohl sie nicht an erster Stelle stand. Die immer wiederkehrende Aufforderung, die ich, seitdem ich Holly vor 24 Jahren kennengelernt habe, immer wieder an mich schreibe: „Pass auf Holly Golightly auf!“
Ich weiß nicht, ob Ihr Holly kennt. Das zarte verlorene Mädchen aus Tulip, Texas, das mit 14 bereits verheiratet war, mit 18 nach New York ging und seitdem eines der berühmtesten Partymädchen der Literatur und des Films wurde. Wenn Holly sich ganz verloren glaubt und das „rote Grausen“ kommt, geht sie zu Tiffanys an der Fifth Avenue, und fühlt sich dort geborgen.
Im Film hätte Holly von niemand besser verkörpert werden können als Audrey Hepburn (Regie: Blake Edwards, Buch: George Axelrod). Im Kurzroman „Frühstück bei Tiffany“ von Truman Capote hat Holly kurze blonde Haare.
„Pass auf Holly Golightly auf!“ Damit meine ich allerdings nicht die „richtige“ Holly, sondern die Holly in mir. Holly ist das Mädchen, das zum Träumen aufbrach, um sich zu finden. Trotz aller Verunsicherung und Ängste. Ohne Überwindung geht es nicht. Und wenn ich auf Holly aufpasse, sorge ich mich um mich. Um meine Träume. Um meine Ängste und deren Überwindung. Allerdings gehe ich nicht zu Tiffany. Ich war mal da. Aber der Zauber hat sich mir nicht so erschlossen. Ich habe ein anderes Tiffany. Jeder sollte ein „Tiffany“ haben, einen Ort der Geborgenheit.
Ich habe lange überlegt, warum diese Figur so eine Konstante in meinem Leben ist. Wir haben nicht sehr viel gemein, Holly und ich. Aber sie hat etwas bei mir ausgelöst. Vielleicht ist es ihre Verlorenheit.
Ihr habt sicherlich ganz andere Bücher- und/oder Filmheldinnen. Aber haben sie nicht eines gemeinsam? Wir fragen uns, was würden sie tun?
Ich frage mich auf jeden Fall, was würde Holly jetzt machen.
Vielleicht wieder mal einen Tag einlegen und all das machen, was sie noch nie zuvor gemacht hat?. Wie vormittags in New York spazieren gehen? Eine Bibliothek besuchen?
Es wird Zeit, ich muss den nächsten Brief an mich schreiben und meine fünf Wünsche. Einen kenne ich übrigens schon.
Eure Inès